Stellungnahme zum Referentenentwurf einer Sechsten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV, Stand: 5. November 2024)

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Deutsche Sozialgerichtstag e. V. (DSGT) dankt für die Gelegenheit, sich im Rahmen der Anhörung zum Gesetzesvorhaben zu beteiligen. Im Einzelnen nehmen wir wie folgt Stellung:

I. Zusammenfassung

Der DSGT regt eine Änderung der in Aussicht genommenen Regelungen zu § 1 BKV an. Er befürwortet die Ergänzung der Liste der Berufskrankheiten um die Nr. 2117, 2118 und 4117.

II. Einzelregelungen

1. Artikel 1 Nr. 1 b): Ergänzung des § 1 Abs. 2 BKV- RefE

Wissenschaftlichen Begründungen und Stellungnahmen des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten kommt nach gegenwärtig wohl weit überwiegender Auffassung keine rechtliche Verbindlichkeit zu. Vielmehr handelt es sich um qualifizierte Zusammenfassungen des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes im Zeitpunkt der Abfassung, die bedeutsam für die Konkretisierung der sog. offenen BK-Tatbestände sind (st. Rechtspr. des BSG, u. a. Urteil vom 2. April 2009 – B 2 U 9/08 R -, zuletzt Urteil vom 16. März 2021 – B 2 U 7/19 R -; Brandenburg in: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Aufl. 2024, Abschn. 2.3.1 (S. 89 f.).

Die vorgeschlagene Regelung des § 1 Abs. 2 BKV würde demgegenüber eine rechtliche Verbindlichkeit bestimmen. Sie verwendet das Wort anwenden. In der Begründung des Verordnungsentwurfs heißt es: „Die rechtliche Verbindlichkeit der wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird […] gesetzlich klargestellt und die insoweit bestehende Regelungslücke geschlossen. Eine Abweichung […] kann nur erfolgen, falls und insoweit deren Bestandteile offensichtlich unrichtig sind.“

Der DSGT regt an, diese beabsichtigte Regelung zu überdenken. 

Zunächst dürfte die Regelung zu den gesetzlich definierten Ermittlungsanforderungen (§ 9 Abs. 3a SGB VII) gehören bzw. diese teilweise limitieren. Vor allem muss die Normsetzung aber den dafür im Grundgesetz vorgesehenen Organen vorbehalten bleiben. Der ÄSVB arbeitet zwar weiterhin weisungsunabhängig, ist aber – trotz seiner Erwähnung in der BKV – lediglich ein internes Beratungsgremium des Verordnungsgebers (§ 9 Abs. 1a SGB VII, § 7 BKV). Der Verordnungsgeber kann seine Rechtsetzungskompetenz schon aufgrund der ausdrücklich auf ihn zugeschnittenen Ermächtigung (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII) nicht (weiter)übertragen. 

Ungeachtet dessen bleibt aber auch ungeregelt, wie die Rechtsanwendenden mit älteren    oder nicht mehr dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand entsprechenden Stellungnahmen umgehen sollen. Eine kontinuierliche Beobachtung der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft und dieser ggf. folgende laufende Aktualisierungen der Stellungnahmen durch den ÄSVB – die auch eine Ergänzung von § 7 BKV erforderte – wäre insbesondere mit den gegenwärtig vorhandenen Mitteln nicht ansatzweise zu leisten.

Das Widerlegen von Stellungnahmen des ÄSVB als „offensichtlich unrichtig“ dürfte deutlich höhere Anforderungen an medizinische Sachverständige, Behörden und Gerichte stellen, als die – nach geltendem Recht notwendige, aber auch ausreichende – Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes.

Dem erkennbaren – und vom DSGT durchaus unterstützten – Willen des Verordnungsgebers, den Stellungnahmen des ÄSVB stärkeres Gewicht beizumessen – insbesondere im Zusammenhang mit der Auslegung des § 9 Abs. 2 SGB VII – könnte ggf. dadurch verfassungskonform Rechnung getragen werden, dass das Wort „anwenden“ durch „berücksichtigen“ ersetzt wird.

Der DSGT gibt jedoch zu bedenken, dass eine unmittelbare Konkretisierung der zahlreichen offenen, bereits vor langer Zeit aufgenommenen BK-Tatbestände in Anlage 1 der BKV um eine möglichst klare Bezeichnung der Art der Erkrankungen und der Art und des Umfangs der arbeitsbedingten Expositionen die Arbeit der Rechtsanwendenden deutlich weitergehend erleichtern sowie die Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz behördlicher und gerichtlicher Hinweise und Entscheidungen für Versicherte und deren Bevollmächtigte erheblich steigern würde. Dies ist im Rahmen der Tagung der Kommission SGB VII beim 9. Deutschen Sozialgerichtstag am 7. und 8. November 2024 in Kassel erneut sehr deutlich zum Ausdruck gekommen.

2. Artikel 1 Nr. 2: Ergänzung der Anlage 1 BKV-RefE

Der DSGT begrüßt die vorgesehene Ergänzung der Liste der Berufskrankheiten um die Nr. 2117, 2118 und 4117

Kassel, 19.11.2024

Michael Löher

Präsident des Deutschen Sozialgerichtstages