Stellungnahme zum Betriebserlaubnisverfahren in der Kinder- und Jugendhilfe
Anlässlich des aktuellen Gesetzesantrages der Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vom 20.11.2019 im Bundesrat (Drucksache 621/19) nimmt der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. wie folgt
Stellung.
Ziel der §§ 45 ff. SGB VIII ist es, alle Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen zu schützen. Aufsicht und Prüfungen von staatlichen Stellen, die die Mindestanforderungen für diesen Schutz sicherstellen, sind unverzichtbare Aufgaben in der Kinder- und Jugendhilfe. Unsicherheiten in der Praxis, die angemessene Beachtung der notwendigen Hierarchie zwischen Prüfenden und zu Prüfenden und einzelne Skandale erfordern die Weiterentwicklung der gesetzlichen Regelungen.
Die bisher vorgelegten Textentwürfe greifen existierende Fragestellungen auf, verfehlen aber bisher das Ziel, durch klare Regelungen die Aufsicht als Aufgabe der überörtlichen Träger (Landesjugendämter) zu stärken und die Einsicht in die Einrichtungen unter Berücksichtigung von § 4 SGB VIII zu verbessern.
Unabhängig vom gesetzgeberischen Reformbedarf schlägt der DSGT den Abgleich der personellen Ressourcen mit den zukünftigen Aufgaben der Aufsicht vor. Dabei soll eine angemessene räumliche Nähe der prüfenden Stelle zu den zu prüfenden Einrichtungen Beachtung finden.
1. Betriebserlaubnis und Aufsicht zwischen Beratung und Kontrolle
Die Rolle des überörtlichen Jugendhilfeträgers bei der Aufgabenwahrnehmung (Erteilung der Betriebserlaubnis und Aufsicht) nach §§ 45 ff. SGB VIII ist in der Praxis mitunter unklar, da einerseits die Beratungsfunktion, andererseits die Kontrollfunktion erfüllt werden soll. Dabei ist die Beratung im Rahmen der §§ 45 ff. SGB VIII nicht als ausdrückliche Aufgabe der Aufsichtsbehörde genannt. Mit Blick auf § 14 Abs. 1 SGB I wird man aber wohl die in § 85 Abs.2 Nr. 7 SGB VIII genannte Aufgabe als hierfür spezielle Rechtsgrundlage für den überörtlichen Träger der Jugendhilfe ansehen dürfen. Dabei ist zwischen dem ggfs. folgenlosen Beratungsanspruch der Träger von Einrichtungen gegenüber dem überörtlichen Träger (Beratungsfunktion nach § 85 Abs. 2 Nr. 7 SGB VIII) und der innerhalb des abgestuften Prüfverfahrens ergehenden, folgenreichen Beratungspflicht des für der Aufsicht zuständigen Behörde zu unterscheiden (Kontrollfunktion nach § 85 Abs.2 Nr. 6 i.V.m. § 45 Abs.6 S. 1 SGB VIII). Diese Beratung dient indes der Beseitigung aufgetretener Mängel im Vorfeld der Erteilung von Auflagen. Die Unterscheidung dieser Funktionen wird dadurch unterstrichen, dass nach § 85 Abs.3 SGB VIII auch der örtliche Träger nur die Beratungsfunktion nach § 85 Abs. 2 Nr. 7 SGB VIII wahrnehmen kann.
Der DSGT empfiehlt zu prüfen, ob diese Unterscheidung einer besonderen gesetzlichen Klarstellung bedarf.
2. Kindeswohl
Entscheidendes Tatbestandsmerkmal für die Erlaubniserteilung und auch für nachträgliche Aufsichtsmaßnahmen des überörtlichen Trägers ist die Gewährleistung des Wohls der Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung. Unklarheiten bei der Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl bzw. Kindeswohlgefährdung im Bereich der §§ 45 ff. SGB VIII führen zu Unsicherheiten seitens der Verantwortlichen der Aufsichtsbehörden darüber, zu welchem Zeitpunkt ein Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) des freien Trägers erforderlich ist. Dies kann für betroffene Kinder und Jugendliche vor allem dann schwerwiegende Folgen haben, wenn ein notwendiger Eingriff durch die Aufsichtsbehörde aus dieser Unsicherheit heraus unterbleibt bzw. verspätet durchgeführt wird. Allerdings ist auch zu beachten, dass ein möglicher Widerruf der Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung eine Gefahr für die betreuten jungen Menschen in der Einrichtung sein kann.
Eine in Praxis und Rechtsprechung erfolgte Bezugnahme auf § 1666 BGB wird oft dahingehend missverstanden, als müssten die Voraussetzungen insofern erfüllt sein. Im familienrechtlichen Kontext, im Zusammenhang mit einem Eingriff in Elternrechte, geht es vor allem um das einzelne Kind. Der jugendhilferechtliche Regelungsbereich der §§ 45 ff. SGB VIII stellt jedoch auf einen Eingriff des überörtlichen Trägers in die Autonomie des freien Trägers ab, wobei die Vielzahl der in der Einrichtung befindlichen Kinder im Mittelpunkt des Schutzbereichs steht. Daraus folgt, dass die Schwelle einer Kindeswohlgefährdung im Bereich der §§ 45 ff. SGB VIII niedriger sein muss. Akute Kindeswohlgefährdungen nach dem Maßstab von § 1666 BGB müssen im Bereich der §§ 45 ff SGB VIII also nicht abgewartet werden. Vielmehr ist auf eine Gefährdung durch unzureichende Rahmenbedingungen der Einrichtung abzustellen.
Der DSGT spricht sich vor diesem Hintergrund dafür aus, auf den Begriff Kindeswohl bzw. Kindeswohlgefährdung innerhalb der Regelungen der §§ 45 ff. SGB VIII zu verzichten und über eine konkrete Umschreibung bzw. Eingrenzung einer quasi „strukturellen Gefährdung“ im Gesetz nachzudenken. Bei einer Weiterentwicklung der Norm hinsichtlich einer Absicherung der strukturellen Rahmenbedingungen ist aber zwingend darauf zu achten, die bisherigen Kriterien in § 45 Absatz 2 SGB VIII beizubehalten und ggf. zu stärken.
Diese Klarstellung korrespondiert mit den Meldepflichten nach § 47 SGB VIII, in dem der Träger anzeigt, wenn das Wohl der Kinder und Jugendlichen (Achtung: Mehrzahl!) beeinträchtigt ist. Die Formulierung zielt auf strukturelle Gefährdungen. Die in der Praxis z.T. erfolgenden Meldungen sogenannter „besonderer Vorkommnisse“ im Einzelfall (!) an das Landesjugendamt als Aufsichtsbehörde entsprechen nicht Sinn und Zweck der Vorschrift.
3. Nachweispflichten
Aus Sicht des DSGT ist es erforderlich, dass neben der individuellen Eignungsprüfung des Fachpersonals auch die Eignung des Trägers einer Einrichtung im Sinne einer „Zuverlässigkeit“ geprüft wird bzw. im laufenden Betrieb überprüft werden sollte. Zu beachten ist dabei allerdings, dass es keinen absoluten bundesrechtlichen Zuverlässigkeitsbegriff gibt und deshalb eine jugendhilfespezifische Praxis bei der Auslegung dieses Begriffs erforderlich wird. Dementsprechend kann im Bereich der Betriebserlaubnis im Rahmen des Kinder- und Jugendhilferechts die Annahme einer Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit nur auf Tatsachen mit einem Bezug zum Träger der Einrichtung als juristischer Person gestützt werden. Nicht umfasst ist die persönliche Eignung der einzelnen Vertreterinnen des Trägers. Anknüpfungspunkte hierfür wären vielmehr §§ 45 Abs. 2 SGB VIII und 48 SGB VIII, die bislang auf die fehlende Eignung von Personen abzielt, die in der Einrichtung tätig sind. Vertreterinnen des Trägers selbst sind nicht erfasst. Dem Träger als juristische Person kann es demnach insbesondere an der notwendigen Zuverlässigkeit fehlen, wenn dieser mit besonderer Beharrlichkeit keine Gewähr dafür bietet, dass er seinen sich aus den §§ 46 und 47 SGB VIII ergebenden Mitwirkungs-, Duldungs-, und Meldepflichten nachkommt, Personen entgegen einem Beschäftigungsverbot nach § 48 SGB VIII beschäftigt oder wiederholt erteilte
Auflagen nicht erfüllt.
Der DSGT sieht die Notwendigkeit einer „ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung“ in den Einrichtungen. Das Kriterium ist aber insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (z.B. ab 5 Plätzen pro Betriebsstätte) zu präzisieren. Auch ist u.a. schon aus datenschutzrechtlichen Erwägungen klarzustellen, dass der Nachweis einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung nicht eine generelle Pflicht umfasst, Bücher und Akten offenzulegen. Bei Gefahren für das Wohl der Kinder kann eine Offenlegung geboten sein. Aber auch hier sind die Regelungen zum Sozialdatenschutz zu beachten.
Die wirtschaftliche Lage eines freien Trägers ist eine wichtige Voraussetzung für die Erbringung der vereinbarten Leistung und Qualität. Eine Darlegung der Solvenz liegt aber in der Verantwortung des Leistungserbringers. Eine Regelung, die über die Formulierung in § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII „(…) wenn 1. die dem Zweck und der Konzeption der Einrichtung entsprechenden (…) wirtschaftlichen (…) Voraussetzungen für den Betrieb erfüllt sind“ hinausgeht, bringt nicht den erhofften Erkenntnisgewinn und wird
vom DSGT abgelehnt.
4. Einrichtungsbegriff
Das SGB VIII enthält keine Definition des Einrichtungsbegriffs. Mit Blick auf die Frage, wann ein Betreuungsangebot dem Erlaubnisvorbehalt und der Aufsicht der §§ 45 ff SGB VIII unterliegt, spielt der Begriff der Einrichtung allerdings eine entscheidende Rolle. Zu beachten ist dabei vor allem, dass der in §§ 45 ff SGB VIII angelegte Erlaubnisvorbehalt einen Eingriff in die Betätigungsfreiheit von Einrichtungsträgern darstellt. Klärungsbedürftig ist unter anderem, wann es sich bei einem Betreuungsangebot um eine Familienpflege in Form der Kindertagespflege oder Vollzeitpflege handelt. Denn für diese Pflegestellen gelten eigene Aufsichtsregeln (§§ 43, 44 SGB VIII).
Der DSGT spricht dafür aus, eine Definition des Einrichtungsbegriffs im SGB VIII zu verankern und Zuordnungskriterien zu formulieren.
Dabei sollten alle professionellen, familienanalogen Angebotsformen, Erziehungsstellen, Projektstellen, individualpädagogischen Betreuungsstellen und sozialpädagogische Lebensgemeinschaften, die in Verantwortung eines Jugendhilfeträgers betrieben werden, der Aufsicht nach §§ 45 ff. SGB VIII unterliegen.
Außerdem ist besonders zu berücksichtigen, dass der Begriff der Einrichtung auch im Bereich der Regelungen zu den Vereinbarungen gemäß § 78b SGB VIII verwendet wird. Zudem ist zwar zwischen Prüfrecht (3. Kapitel: Andere Aufgaben) und Leistungsrecht (1. Kapitel: Leistungen i. V. m. §§ 26, 78a ff. SGB VIII) zu unterscheiden, doch gibt es in der Praxis teilweise Unklarheiten in der Verortung (u.a. Vorlage der Konzeption, Qualifikation des Personals, Stellenschlüssel, Prüfverfahren, Maßnahmen der Qualitätsentwicklung).
In systematischer Hinsicht ist darüber nachzudenken, die Definition in § 45 Abs. 1 SGB VIII einzufügen oder, aufgrund seiner allgemeingültigen Bedeutung, in § 7 SGB VIII (Begriffsbestimmungen) aufzunehmen.
5. Prüfrechte an Ort und Stelle
Die dringend notwendige Einsicht in die Arbeit der Einrichtungen erhält die Aufsicht führende Stelle vor allem durch die Prüfungen an „Ort und Stelle“. Der DSGT empfiehlt dringend, an den „Örtlichen Prüfungen“ festzuhalten. Durch die aktuell angedachte Möglichkeit, alleine durch die Vorlage schriftlicher Unterlagen die Prüfung durchzuführen, wird der verschriftlichten Dokumentation im Betriebserlaubnisverfahren ein unangemessener hoher Stellenwert mit Blick auf das Ziel, Kinder zu schützen, eingeräumt.
Der DSGT empfiehlt, in regelmäßigen Abständen angemeldet oder anlassbezogen, dann ggfs. unangemeldet, Überprüfungen durchzuführen.
Unangemeldete Prüfungen sollten bei gewichtigen Anhaltspunkten für die Unterschreitung der Mindestanforderungen und Gefährdung der Kinder erfolgen. Ohne Anlass sind sie unverhältnismäßig und verfehlen aufgrund des Faktors Zufall ihr Ziel.
Die Einsicht in Einrichtungen gewinnt die aufsichtführende Stelle durch die Eindrücke vor Ort, insbesondere durch Gespräche mit Kindern, Jugendlichen, mit Beschäftigten und Leitungskräften. Wie bisher sollten die Gespräche keinen Beschränkungen unterliegen, wie etwa auf Einzelgespräche oder durch generelle vorherige Einwilligungserklärungen der Personensorgeberechtigten. Auch in der bisherigen Gesetzesformulierung gelten die Regelungen zum Datenschutz. Darüber hinaus: Junge Menschen und ihre Eltern sollten verstärkt die örtlichen und überörtlichen Jugendämter und andere externe Stellen für ihre Anliegen bzw. Beschwerden nutzen (können).
6. Intervention der Aufsichtsbehörde
In der Praxis entstehen immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Aufsichtsbehörden und freien Trägern, wenn es um die Feststellung bzw. den Fortbestand von Mängeln innerhalb der Einrichtung geht. Dabei ist der Begriff des Mangels in § 45 Abs.6 SGB VIII nicht weiter ausgeführt.
Der DSGT spricht sich vor diesem Hintergrund dafür aus, die Definition eines Mangels im Sinne des § 45 Abs. 6 SGB VIII zu verankern.
Abzustellen wäre hierbei vor allem auf Gegebenheiten, die den Anforderungen, die sich aus der Erteilung der Betriebserlaubnis ergeben, nicht entsprechen oder sonstigen Gründen, die mit allgemein anerkannten, fachlichen Grundsätzen nicht vereinbar sind.
Für den Vorstand des Deutschen Sozialgerichtstags e. V.
gez. Monika Paulat
Präsidentin