Tagungsbericht: Workshop „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdenvalidierung“
„Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdenvalidierung“ – Tagungsbericht zum Workshop der Kommission SGB VI des Deutschen Sozialgerichtstages e.V.
Im Jahre 2020 entfielen über 40 % der erstmals gezahlten Erwerbsminderungsrenten auf psychische Erkrankungen.[1] Deren Bedeutung nimmt auch in anderen Sozialversicherungszweigen seit Jahren zu. Hierdurch stehen Verwaltungen und Gerichte vermehrt vor der Frage, wie regelmäßig notwendige psychiatrische und/oder psychologische Gutachten auf ihre Validität geprüft werden können. Dabei tritt der Verdacht der Aggravation und Simulation des Antragsstellers in ein Spannungsverhältnis zur Gefahr der Unterdiagnostizierung tatsächlicher psychischen Störungen. Welche Möglichkeiten Verwaltungen, Gerichte, Sachverständige und die Beteiligten haben, um richtige Entscheidungen zu erreichen, hat der Workshop „Psychische Störungen im Sozialrecht – Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdenvalidierung“der Kommission SGB VI des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT e.V.) am 20.4.2023 in Kassel ausgelotet.
Die Veranstaltung im Bundessozialgericht (BSG) begann mit einem Grußwort der Präsidentin des DSGT e.V., Dr. Miriam Meßling, mehr als 120 Teilnehmende begrüßte. Sie betonte die Aktualität und hohe Praxisrelevanz der Thematik und unterstrich die Notwendigkeit einer fairen Begutachtungspraxis. Zudem hob sie die berufliche Vielfalt der Teilnehmenden hervor, die ein gutes Beispiel für die Interdisziplinarität des DSGT e.V. sei.
In einem ersten Vortragsblock wurde ein Überblick über den in Bezug auf psychische Störungen bedeutsamen materiell-rechtlichen Rahmen verschiedener Gebiete des Sozialrechts geboten. Hierzu erläuterte Beate Radon, Vorsitzende Richterin am LSG Berlin-Brandenburg, die rechtliche Relevanz psychischer Störungen im Bereich des Rentenversicherungsrechts. Als Kernproblem benannte sie die fehlende objektive Messbarkeit psychischer Erkrankungen, deren Einschätzung in hohem Maße von subjektiven Indikatoren abhängig sei. Daher käme im gerichtlichen Verfahren Sachverständigengutachten eine besonders hohe Bedeutung zu. Dabei stünden Gerichte immer wieder vor dem Problem, eine ausreichende Zahl zuverlässiger Sachverständiger zu finden. Im Anschluss referierte Carsten Karmanski, Richter im 2. Senat des BSG, über die Besonderheiten in der gesetzlichen Unfallversicherung. Insbesondere ging er auf die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als zunehmend häufiger diagnostizierter Erscheinungsform psychischer Erkrankungen ein. Im Rahmen des Unfallversicherungsrechts stelle gerade beim (vermeintlichen) Vorliegen einer PTBS der Nachweis der Kausalität zwischen Einwirkung und Gesundheitsschaden eine nicht unerhebliche Schwierigkeit dar. Dr. Christian Mecke, Richter im 9./10. Senat des BSG, beschloss den ersten Block mit Ausführungen zur dreigliedrigen Anspruchskette im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts. Im Zentrum standen dabei die unterschiedlichen Beweismaßstäbe für den Nachweis des schädigenden Ereignisses, der Schädigung und der Schädigungsfolgen sowie die im Rahmen der Kausalität genügende Wahrscheinlichkeit. Dazu gab er auch einen Ausblick auf die Änderungen, welche mit dem im Wesentlichen erst zum 1.1.2024 in Kraft tretenden SGB XIV verbundenen sein werden.
Der folgende Beitrag betrachtete die richterliche Rolle bei der Begutachtung psychischer Störungen. Dr. med. Heinfried Tintner, Vorsitzender Richter am LSG Nordrhein-Westfalen, betonte zunächst die enorme Wichtigkeit von Gutachten für die Gerichte, da diese die Schilderungen der Antragssteller erst „objektivierten“. In diesem Zusammenhang verwies er auch auf den in Nordrhein-Westfalen in hoher Zahl festgestellten, bis 2014 erfolgten systematischen Rentenbetrug im Zusammenhang mit psychischen Störungen. Sodann erläuterte er die auf Seiten des Gerichts notwendigen Schritte zur sorgfältigen Vorbereitung und Validierung entsprechender Gutachten. Insoweit empfahl er unter anderem, nicht nur einfache Befundberichte, sondern möglichst die vollständigen Behandlungsunterlagen der behandelnden Ärzte, Kliniken und Ambulanzen sowie ein Vorerkrankungsverzeichnis der Krankenkasse beizuziehen. Zudem müsse das Gericht prüfen, ob ein Gutachten dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspreche und unter Berücksichtigung einschlägiger Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften erstellt worden sei. In Bezug auf psychische Störungen sähen diese eine dokumentierte Validierung der geklagten Beschwerden sowie körperlicher und psychischer Einschränkungen als zwingenden Inhalt des Gutachtens vor (Darstellung der zur Validierung verwendeten Informationen, Begründung der gutachterlichen Urteilsbildung). Gegebenenfalls seien Sachverständige aufzufordern, die Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung nochmals zu erläutern.
Nach Abschluss einer kurzen Diskussionsrunde zum vorherigen Vortrag stellte Prof. Claudia Böwering-Möllenkamp, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, die psychiatrisch-psychotherapeutische Sicht auf Begutachtung, Konsistenzprüfung und Beschwerdenvalidierung dar. Vor dem Hintergrund einer gleichbleibenden Krankheitshäufigkeit in der Allgemeinbevölkerung erörterte sie die gesellschaftlichen und sozialen Einflussfaktoren für den Bedeutungszuwachs psychischer Erkrankungen in den Sozialsystemen. Dabei betrachtete sie auch finanzielle Interessen und das mit einer Ausweitung psychiatrischer Diagnosen in dem Bereich leichter Verhaltensabweichungen und normalpsychischer Probleme verbundene Problem der Abgrenzung zu ernsten und echten Zuständen psychischen Versagens. Hierzu verwies sie auf den Warnhinweis des DSM-5, wonach eine bestimmte Diagnose nicht bedeute, dass bereits ein spezifisches, auch rechtlich relevantes Ausmaß von Beeinträchtigung oder Behinderung vorliege. Anhand aktueller Rechtsprechung erörterte sie die notwendige Unterscheidung von Therapie und Begutachtung wie auch mögliche, aus dem unterschiedlichen Rollenverständnis von Ärzten und Richtern folgende Missverständnisse. Schließlich plädierte sie für ein systematisches mehrphasiges Vorgehen bei der sozialmedizinischen Konsistenzprüfung. Mit Bezug hierauf hob sie insbesondere die Notwendigkeit einer Längsschnittbetrachtung hervor, die auf Grundlage einer umfassenden Vordokumentation der Krankheits- und Sozialbiographie der Probanden zu erfolgen habe.
Im letzten Beitrag der Veranstaltung sprach PD Dr. Ralf Dohrenbusch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologische Begutachtung e.V., über die Bedeutung psychologisch-psychotherapeutischer Expertise bei der Begutachtung psychischer Störungen. Eingangs erläuterte er das zunehmende Problem der Vorbereitung auf entsprechende Gutachten. So sei es heutzutage für Antragsteller ein Leichtes, sich für bestimmte Begutachtungssituationen und Tests zu präparieren und so das Ergebnis zu beeinflussen. Daher erfordere die testpsychologische Beschwerdenvalidierung eine von ausgebildeten Psychologen und ggf. Neuropsychologen durchgeführte Begutachtung, die jedoch nicht von der klinischen Beurteilung getrennt erfolgen solle. Hierzu erläuterte er die Prinzipien und Möglichkeiten der Konsistenz- und Plausibilitätsprüfung psychologischer Testverfahren insbesondere im Hinblick auf die Performancevalidierung und inhaltliche Antwortverzerrungen. Schließlich ging er auf spezielle Probleme im Zusammenhang mit PTBS und Erschöpfung/Depression ein, die er anhand eines Beispielfalls näher beleuchtete. Daraus schloss er auf die Notwendigkeit einer theoretischen Basis für die Validierungsdiagnostik sowie darauf abgestimmter und evaluierter psychologischer Testverfahren mit ausreichenden Testgüteeigenschaften. Zugleich sei eine Plausibilitätsprüfung durch die Verknüpfung verschiedener Datenquellen, Messmethoden und Datenebenen erforderlich.
Nach einer Abschlussdiskussion, die sich im Wesentlichen mit der Frage psychologischer Hauptgutachten beschäftigte, endete der Workshop. Die hierbei gewonnenen Einsichten werden in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe des DSGT e.V. weiter diskutiert, deren Ergebnisse ggf. in geeigneter Form publiziert werden sollen.
Lucas Rothstein/Dr. Christian Mecke
[1] „Psychische Erkrankungen häufigste Ursache für Erwerbsminderung“, https://www.deutsche-rentenversicherung.de/, aufgerufen am 26.04.2023.
Workshop Unterlagen
Unterlagen Prof. Claudia Böwering-Möllenkamp
Unterlagen Dr. Christian Mecke