Online-Workshop: Das sozialgerichtliche Verfahren in und nach der Pandemie – Bestandsaufnahme und Ausblick (Tagungsbericht am Ende der Seite)
Online-Workshop der Kommission Verfahrensrecht
Am 13. April 2022 ab 14:00 Uhr in Kassel
Die Corona-Pandemie hat auch die Sozialgerichte vor große Herausforderungen gestellt. Mündliche Verhandlungen als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens konnten vielfach nicht oder zumindest nicht wie gewohnt durchgeführt werden. Auf den – auch mit rechtlichen Problemen verbundenen – Einsatz von Videokonferenztechnik waren die meisten Gerichte technisch nicht vorbereitet. Aber auch darüber hinaus war und ist der Gerichtsbetrieb durch die erforderlichen Kontaktbeschränkungen zum Teil erheblich eingeschränkt. Ein Grund dafür ist sicher auch, dass die Implementierung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Gerichtsakte in vielen Gerichten noch nicht allzu weit vorangeschritten ist und deshalb auch ein Arbeiten im Homeoffice nur eingeschränkt möglich war/ist.
In einem Online-Workshop möchte sich die Kommission Verfahrensrecht des Deutschen Sozialgerichtstages e.V. (DSGT) diesem Thema widmen. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme wollen wir den Blick dabei auch in die Zukunft richten und unter anderem folgenden Fragen nachgehen: Wie sind die Sozialgerichte mit der Pandemie umgegangen? Haben sie die richtige Balance zwischen Gesundheitsschutz und Gewährung von Rechtsschutz gefunden? Welche rechtlichen und tatsächlichen Probleme gab es? (Wie) Wurden diese gelöst? Wo stehen wir aktuell? In welchen Bereichen besteht Handlungsbedarf?
Hierzu haben wir namhafte Referentinnen und Referenten gewinnen können.
Programm
14.00 Uhr
Begrüßung
Grußwort des Präsidenten des Bundessozialgerichts
Prof. Dr. Rainer Schlegel
Grußwort der Präsidentin des DSGT e.V.
Monika Paulat
14.30 Uhr
Überblick über die verfahrensrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Pandemie und die vom Gesetzgeber geschaffenen Sonderregelungen
Dr. Miriam Meßling, Vizepräsidentin des Bundessozialgerichts, Kassel
15.30 Uhr
Die Sozialgerichte in und nach der Pandemie
- aus anwaltlicher Sicht
Dietrich Berding, Rechtsanwalt, SKB Anwälte & Notare, Kassel - aus richterlicher Sicht
Dr. Stefan Schifferdecker, Richter am Sozialgericht und Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes Berlin beim Deutschen Richterbund, Berlin - aus Sicht der Gerichtsverwaltung
Dr. Christine Fuchsloch, Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts und Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts
16.30 Uhr
Offene Diskussion mit den Teilnehmenden
17.30 Uhr
Ende der Veranstaltung
Bericht über den Online-Workshop der Kommission Verfahrensrecht des Deutschen Sozialgerichtstags e. V. am 13.04.2022 im Bundessozialgericht in Kassel mit dem Thema
Das sozialgerichtliche Verfahren in und nach der Pandemie – Bestandsaufnahme und Ausblick
Frau Richterin am Sozialgericht a. D. und Vizepräsidentin des Deutschen Sozialgerichtstags e. V. (DSGT) Frau Weßler-Hoth begrüßte als bisherige Vorsitzende der Kommission Verfahrensrecht des DSGT die im Saal anwesenden und die online zugeschalteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer, insbesondere den Präsidenten des Bundessozialgerichts Prof. Dr. Rainer Schlegel und die Präsidentin des Deutschen Sozialgerichtstags e. V. (DSGT) Frau Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg a. D. Monika Paulat. Sie bedankte sich bei Prof. Dr. Schlegel für die erneute Gastfreundschaft in den Räumen des BSG und die großzügige Zurverfügungstellung der für diese Hybridveranstaltung unerlässlichen technischen Einrichtungen.
Frau Weßler-Hoth teilte sodann in eigener Sache mit, dass sie nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Richterinnendienst den Vorsitz der Kommission Verfahrensrecht, den sie seit 2007 innehatte, nun in die kompetenten Hände ihres Nachfolgers Herrn Richter am Bundessozialgericht Dr. Frank Bockholdt abgibt. Herr Dr. Bockholdt habe auch bereits den wesentlichen Teil der Vorbereitung der heutigen Veranstaltung geleistet.
Herr Dr. Bockholdt führte in das Thema der Veranstaltung ein. Die Idee der Veranstaltung sei, ausgehend von einer Bestandsaufnahme über die während der Corona-Pandemie aufgetretenen verfahrensrechtlichen Probleme den Blick in die Zukunft zu richten und zu erörtern, in welchen Bereichen Handlungsbedarf besteht, um auch künftig bei ähnlichen Problemlagen die richtige Balance zwischen Gesundheitsschutz und der Gewährung von Rechtsschutz zu finden.
Sodann begrüßte auch Prof. Dr. Schlegel die Teilnehmenden und bedankte sich bei Frau Paulat für die gute Zusammenarbeit des DSGT mit dem Deutschen Sozialrechtsverband e. V. (DSGV). Zum Thema der Veranstaltung wies er darauf hin, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit unter der Pandemie zwar Rücksicht auf die Akteure der Verfahren zu nehmen gehabt hätten, aber gleichwohl nicht allen Wünschen hätten nachkommen können. Auch weiterhin dürfe der Gesundheitsschutz nicht vernachlässigt werden, andererseits aber die mündliche Verhandlung als wesentlicher Bestandteil des Verfahrens nicht an Bedeutung verlieren. Für die Zukunft wünsche er sich, dass der Gesetzgeber die Prozessordnungen „digital neu denken“ möge. So müsse z. B. über Anforderungen an die Struktur von Schriftsätzen nachgedacht werden, damit diese nicht nur in elektronischen Gerichtsakten gespeichert werden, sondern auch für die elektronische Bearbeitung geeignet sind. Zu entsprechenden gesetzlichen Regelungen könne auch der DSGT Vorschläge erarbeiten.
Frau Paulat verband ihr Grußwort ebenfalls mit dem Dank an den Präsidenten und die Vizepräsidentin des Bundessozialgerichts für ihre Teilnahme an der Veranstaltung. Besonders dankbar sei sie für das geäußerte Bekenntnis zur Bedeutung der mündlichen Verhandlung. Die heutige Veranstaltung knüpfe an die vom DSGT am 25.06.2021 in Potsdam durchgeführte Podiumsdiskussion „Rechtsordnung in der Corona-Pandemie: Sozialstaat unter Bewährung!“ an. Sodann bedankte sie sich bei Frau Weßler-Hoth für deren langjährige Leitung der Kommission Verfahrensrecht des DSGT. Die Gründung des DSGT im Jahr 2006, an der Frau Weßler-Hoth ebenfalls beteiligt war, sei seinerzeit ein deutliches Zeichen an die Politik gewesen, von der von zahlreichen Entscheidungsträgern befürworteten Zusammenlegung der Sozial- und der Verwaltungsgerichtsbarkeit abzusehen. Von derartigen Bestrebungen sei heute nicht mehr die Rede.
Im Hauptreferat der Veranstaltung gab Frau Vizepräsidentin des Bundessozialgerichts Dr. Miriam Meßling einen Überblick über die verfahrensrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und die vom Gesetzgeber aus diesem Anlass geschaffenen Sonderregelungen, insbesondere den bis zum 31.12.2020 befristeten § 211 SGG. Die hierdurch ermöglichte Teilnahme ehrenamtlicher Richterinnen und Richter an mündlichen Verhandlungen und Beratungen von einem anderen Ort sei mit Problemen verbunden gewesen hinsichtlich der Wahrung des Beratungsgeheimnisses und der ordnungsgemäßen Besetzung des Spruchkörpers sowie der Interaktion zwischen den Mitgliedern des Spruchkörpers. Von der weiterbestehenden Regelung des § 110a SGG über die Teilnahme Verfahrensbeteiligter an mündlichen Verhandlungen von einem anderen Ort werde in unterschiedlichem Maß Gebrauch gemacht. Insgesamt forderte Frau Dr. Meßling hierfür krisenfeste gesetzliche Regelungen. Mit den aus Gründen des Gesundheitsschutzes ergriffenen Maßnahmen der Gerichtsverwaltungen und der Spruchkörpervorsitzenden seien deutliche Einschränkungen der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen verbunden gewesen und die Anordnung zum Tragen von Masken kollidiere mit dem Vermummungsverbot des § 176 Absatz 2 GVG. Im Rahmen der aktuellen Lockerungen dürfte die Anordnung des Tragens von Masken wohl noch für die Öffentlichkeit, nicht aber mehr für die Verfahrensbeteiligten angemessen sein. In der nachfolgenden kurzen Aussprache wurde schließlich darauf hingewiesen, dass die pandemiebedingten Einschränkungen insbesondere Auswirkungen auf die Dauer medizinischer Begutachtungen gehabt haben.
Im zweiten Teil der Veranstaltung gab Herr Prof. Dr. Armin Höland, bis 2014 Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und das Recht der sozialen Sicherung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, einen kurzen Einblick in die Ergebnisse eines zusammen mit Prof. Dr. Felix Welti, Universität Kassel, mit Förderung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales durchgeführten Forschungsprojekts mit dem Titel „Arbeits- und Sozialgerichte und Sozialverwaltung in der Pandemie“. Es habe sich um eine Forschung „im laufenden Leben“ gehandelt über die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie auf die Gerichtsorganisation, die Verhandlungspraxis und die medizinische Begutachtung. Bemerkenswert sei der gelungene Infektionsschutz gewesen, der praktisch ohne Vorlauf und Vorbild bewältigt worden sei, was für den öffentlichen Dienst äußerst unüblich sei. Insbesondere habe die Pandemie in der gerichtlichen Praxis einen enormen Entwicklungsschub für die Digitalisierung gebracht, wozu allerdings eine sehr unterschiedliche Richtermeinung festzustellen sei. Gleichwohl sei ein deutliches Votum für eine Erweiterung der Nutzung der Videotechnik zu verzeichnen, vorrangig allerdings für Erörterungstermine und die Anhörung von Sachverständigen. Über die weiteren Ergebnisse des Forschungsprojekts, wie z. B. die empirischen Erkenntnisse für die häufigere Nutzung von Gerichtsbescheiden und Urteilen ohne mündliche Verhandlung, werden die Autoren in der Sitzung der Kommission Verfahrensrecht beim 8. Deutschen Sozialgerichtstag (3. bis 4. November 2022 in Potsdam) ausführlicher berichten.
Im Anschluss hieran folgten Beiträge über die Sozialgerichte in und nach der Pandemie aus anwaltlicher und richterlicher Sicht sowie aus Sicht der Gerichtsverwaltung.
Herr Rechtsanwalt Dietrich Berding, Fachanwalt für Sozialrecht in Kassel, wies zunächst darauf hin, dass der Gesetzgeber infolge der Corona-Pandemie vor allem zahlreiche materiell-rechtliche Regelungen, z. B. zur Kurzarbeit, getroffen habe und weniger zum Verfahrensrecht. Die Pandemie habe Auswirkungen auf die Verfahrensdauer und die Entscheidungspraxis der Gerichte, z. B. durch vermehrte Entscheidungen durch Gerichtsbescheid oder ohne mündliche Verhandlung, gehabt. In der anwaltlichen Praxis hätten vermehrt kontaktlose Beratungen, also per Telefon oder Videokonferenz, stattgefunden. Die Digitalisierung im Kontakt zu den Gerichten leide noch unter zahlreichen Unzulänglichkeiten, allerdings sei die Sozialgerichtsbarkeit auf diesem Gebiet durchaus als Vorreiter anzusehen. Insgesamt befürwortete Herr Berding eine Beschleunigung der Digitalisierung und deren intensivere Nutzung. Hierzu sollten alle Verfahrensbeteiligten bereit sein.
Herr Dr. Stefan Schifferdecker, Richter am Sozialgericht Berlin und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundessozialgericht, pandemiebedingt zugeschaltet aus dem Home-Office, berichtet, das Sozialgericht Berlin habe in der Pandemie gut funktioniert. Man habe einen Notgeschäftsverteilungsplan und Anwesenheitsregelungen beschlossen. Da die Justiz in Berlin zunächst nicht als „systemrelevant“ bei den Regelungen über die Kita-Notbetreuung berücksichtigt worden war, habe es Engstellen bei den Geschäftsstellen gegeben, während die Richterschaft sich rasch auf digitales Arbeiten umgestellt habe, zunächst aber mit privaten Geräten, weil die dienstlichen Geräte nicht über eine Kamera verfügten. Gelitten habe natürlich der persönliche Kontakt zwischen den Kolleginnen und Kollegen. Der durch die Verfahrensverzögerungen entstandene Verfahrensstau habe 2021 noch nicht abgearbeitet werden können. Zwischenzeitlich verfüge das Sozialgericht Berlin aber über zwei mit Videotechnik ausgestattete Säle für Erörterungstermine und zwei mobile Stationen für mündliche Verhandlungen. Herr Dr. Schifferdecker hat hierzu gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Leitfaden für die Nutzung der Videotechnik erarbeitet, der unter anderem auch Fragen des Datenschutzes und der Protokollierung behandelt. Probleme seien allerdings entstanden durch die datenschutzrechtliche Bewertung der Berliner Datenschutzbeauftragten zur Nutzung der Videokonferenzsoftware WebEx. Herr Dr. Schifferdecker forderte in diesem Zusammenhang, Datenschutzangst durch Datenschutzbewusstsein zu ersetzen.
Frau Dr. Christine Fuchsloch, Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts und Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts sowie Vizepräsidentin des DSGT, berichtete, zugeschaltet aus dem Urlaub, zunächst über die zu Anfang der Corona-Pandemie veranlasste Aufhebung aller Sitzungstermine und die praktischen Probleme bei der zeitnahen Beschaffung von Plexiglasscheiben für die Sitzungssäle. Die Geschäftsstellen seien mit Laptops ausgestattet worden und man habe zeitweise die Verhandlungstermine in einen ohnehin geschlossenen Gasthof verlegt. Frau Dr. Fuchsloch forderte ebenfalls einen Ausbau der Möglichkeit von Videoverhandlungen, bevorzugte aber die Teilnahme aller Beteiligter entweder in Präsenz oder durch Zuschaltung von einem anderen Ort, wobei die jeweiligen Mandanten zusammen mit ihren Prozessbevollmächtigen in deren Kanzlei sitzen sollten. Durch die Wahl des anderen Ortes und angemessene Kleidung solle aber auch hierbei die Würde des Gerichts gewahrt werden. Aufgrund der Erfahrungen mit unterschiedlichen Video- und anderen elektronischen Übertragungstechniken forderte Frau Dr. Fuchsloch ein einheitliches Videosystem für die gerichtliche Nutzung in allen Bundesländern, das auch den Besonderheiten der mündlichen Verhandlung Rechnung trägt und z.B. eine geschützte Kommunikation der Beteiligten mit ihren Bevollmächtigten ermöglicht.
In der sich anschließenden kurzen Diskussion wurde gefordert, die Videoverhandlung nicht zum Regelfall werden zu lassen und auch weiterhin die Mitglieder des Spruchkörpers räumlich nicht zu trennen. Bei der Forderung nach vermehrter Nutzung von Videotechnik müsse insbesondere zwischen den Interessen professioneller und nicht professioneller Beteiligter unterschieden werden. Die mündliche Verhandlung und die Beteiligung ehrenamtlicher Richterinnen und Richter dürfe nicht weiter eingeschränkt werden. In seinem Schlusswort bedankte sich Herr Dr. Frank Bockholdt bei allen in Kassel anwesenden und online zugeschalteten Teilnehmerinnen und Teilnehmern, insbesondere den Referentinnen und Referenten, für ihre Beiträge. Er freue sich, möglichst viele von ihnen beim 8. Deutschen Sozialgerichtstag am 3. und 4. November 2022 in Potsdam persönlich begrüßen zu können.