Pressemitteilung zum 9. Deutschen Sozialgerichtstag

Zu seiner 9. Bundestagung begrüßte der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. (DSGT) im November 2024 mehr als 300 Teilnehmende in den Räumen des Bundessozialgerichts in Kassel. Unter der Überschrift „Neue Zeiten – Neues Sozialrecht“ lud die scheidende Präsidentin des DSGT, Dr. Miriam Meßling, das Fachpublikum zu einem interdisziplinären Dialog ein. „Wir wollen den Veränderungen unserer Gesellschaft soziologisch auf die Spur gehen und einen Blick auf den gesellschaftlichen Boden werfen, der »neue Zeiten« auch im Sozialrecht bringt“, so Dr. Miriam Meßling. Dafür konnte der DSGT den Makrosoziologen und Leibniz-Preisträger Prof. Dr. Steffen Mau gewinnen. Er analysierte in seinem Vortrag die „Triggerpunkte im Sozialstaat“ und machte deutlich, dass bei einem Teil der Gesellschaft eine Veränderungserschöpfung bezogen auf den sozialen Wandel feststellbar sei. Zudem präsentierte Dr. Christoph T. Burmeister seinen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Forschungsansatz „Das Problem: Kind“. Er ordnete die Idee der Kindheit als Ausgangspunkt für die Entwicklung zentraler Vergesellschaftungspraktiken ein.

In ihrem Grußwort betonte die Hessische Sozialministerin Heike Hofmann die Notwendigkeit einer behutsamen Weiterentwicklung des Sozialstaats: „Verantwortungsvolle Politik muss die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stets im Blick behalten, um die Handlungsfähigkeit unserer sozialen Hilfesysteme dauerhaft zu gewährleisten. Lassen Sie uns daher gemeinsam weiter dafür arbeiten, dass das Sozialrecht eine verlässliche Stütze für die Menschen bleibt und ihre Existenz und Würde sichert.“ 

Der Oberbürgermeister der Stadt Kassel Dr. Sven Schoeller unterstrich, dass das Sozialrecht alle angehe und die unterschiedlichsten Lebensbereiche betreffe, aber auch eine Frage der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kommunen sei. 

Die Präsidentin des Bundessozialgerichts Dr. Christine Fuchsloch hob die Vielfalt des im DSGT versammelten Fachwissens seiner Mitglieder hervor: „Der DSGT ist das Forum des interdisziplinären Austauschs – von Menschen, die Regeln hinterfragen, diese anwenden und die ganz praktisch z.B. als Ärztinnen und Ärzte tätig sind und in Kenntnis der Regeln helfen, komplexe medizinische Sachverhalte festzustellen.“ Besorgniserregend sei jedoch, dass das Sozialrecht in der Anwaltschaft immer weniger Platz finde. Es fehlten Lehrgänge in der Fachanwaltsausbildung, die Vergütung sei unattraktiv, der Abschluss von Honorarvereinbarungen anstelle gesetzlicher Gebühren sei im Sozialrecht nicht realistisch. „Die Verwirklichung sozialer Rechte muss aber für Bemittelte wie auch Unbemittelte möglich sein“, so Fuchsloch. Dazu gehöre auch, nicht bei der Justiz zu sparen, sondern den Rechtsstaat in der Fläche zu erhalten. 

Am Abend des ersten Veranstaltungstages begrüßte die Landesdirektorin des Landeswohlfahrtsverbands Hessen,Susanne Simmler, die Teilnehmenden im Ständehaus in Kassel, dem ältesten Parlamentsgebäude Hessens und heutigen Sitz des Verbands.

Michael Löher, der von der Mitgliederversammlung des DSGT zu dessen neuen Präsidenten gewählt wurde, wies auf die erfolgreiche Arbeit der Fachkommissionen des DSGT hin. Er mahnte in Richtung des Gesetzgebers: „Eine Beteiligung der Verbände an Gesetzgebungsverfahren nur zum Schein ist für die Entwicklung des Sozialstaats kontraproduktiv. Die im DSGT versammelte Expertise kann gerade mit dafür Sorge tragen, den Sozialstaat zu stabilisieren und notwendige Reformen zu unterstützen. Dazu gehört natürlich eine Legislative und Exekutive, die bereit sind, fachkundige Vorschläge zu hören, anzunehmen und umzusetzen.“

Während der Bundestagung erarbeiteten die Teilnehmenden in den Fachkommissionen konkrete Forderungen an den Gesetzgeber: 

Die Kommissionen SGB II und SGB XII wiesen darauf hin, dass die Fortschreibung der Regelbedarfe im Bereich von Bürgergeld und Sozialhilfe dringend einer Überarbeitung bedürfe, da der derzeitige Mechanismus eher zufällige Ergebnisse produziere und zu einer ordnungsgemäßen Bedarfsermittlung ungeeignet sei. Zudem verdeutliche das Gesetzgebungsvorhaben zur Kindergrundsicherung die Herausforderungen rechtlicher Schnittstellenprobleme im Sozialrecht und bei der Beteiligung verschiedener Fachressorts. Dafür sei mehr als eine Legislaturperiode erforderlich.

Die Kommission SGB III identifizierte Probleme bei der Arbeitsmarktintegration: Die Regelungen des aktiven Arbeitsförderungsrechts seien nicht ausreichend auf Personengruppen mit Zugangshindernissen zum Arbeitsmarkt – insbesondere auf Menschen mit Behinderungen – zugeschnitten. Die Regelungen sollten daher auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse über die Zugangshindernisse dieser Personengruppen ausgerichtet werden.

Die Kommissionen SGB V und Ethik entwickelten zum Thema „Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum“ Leitsätze für gute Telemedizin unter Einbindung Künstlicher Intelligenz. Das technisch Mögliche dürfe aber nicht die Präsenzbehandlung ersetzen. Telemedizin sei dort sinnvoll, wo ansonsten keine Behandlung stattfinde oder nur unter erheblichen Erschwernissen. Künstliche Intelligenz könne bei der Dokumentation und bei der Erstellung von Befundberichten zur Anwendung kommen. Standards für die Hardware und die Software sollten in das Qualitätssicherungs- und Vergütungssystem des SGB V implementiert werden.

Die Kommission SGB VI forderte eine obligatorische Alterssicherung mit dem Ziel einer auskömmlichen Rente (vgl. dazu das Positionspapier „Zur Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung“ des DSGT).

Die Kommission SGB VII sprach sich für eine möglichst klare Bezeichnung von Berufskrankheiten bzw. der Art der Erkrankungen und der Art und des Umfangs der arbeitsbedingten Expositionen aus. Sie forderte die Aufnahme von Mindestbelastungsdosen.

Die Kommission SGB VIII wies auf den aktuellen Entwurf des Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetzes hin und mahnte Verbesserungen an (vgl. dazu die Stellungnahme vom 8.10.2024). 

Die Kommission SGB IX betonte, dass Betroffenen in Werkstätten für behinderte Menschen berufliche Bildung besonders wichtig sei. Werkstätten sollten Orte der Ausbildung und des lebenslangen Lernens sein. Die Kommission wies zudem auf Herausforderungen im Bereich der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz hin (vgl. dazu bereits den Bericht über die Fachtagung am 9.8.2024) 

Die Kommission SGB XI forderte zur Sicherstellung einer menschenwürdigen Pflege, dass die Länder ihren gesetzlichen Verpflichtungen insbesondere im Bereich von Investitionen nachkommen. Außerdem müssten die Kommunen in das System stärker einbezogen werden. Verankert werden sollten Vorkehrungen zur Qualitätskontrolle und Qualitätssicherung in der privat durchgeführten Pflege genauso wie institutionelle Strukturen gegen Gewalt in der Pflege beispielsweise analog zur Jugendhilfe. 

Die Kommission SGB XIV zeigte die Komplexität auf, mit der im Sozialen Entschädigungsrecht der ursächliche Zusammenhang bei psychischen Gesundheitsstörungen vermutet wird oder als widerlegt gilt. Die dazu ergangenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze der Versorgungsmedizin-Verordnung konkretisierten hier nicht ausreichend. Zudem bestünden nunmehr 3 medizinische Klassifikationssysteme – ICD 10, ICD 11 und DSM 5 – zur Beurteilung psychischer Gesundheitsstörungen.

Die Kommission Verfahrensrecht blickte auf die Regelungen zur leichten und einfachen Sprache in der Sozialverwaltung, zur Videoverhandlung im gerichtlichen Verfahren und zum elektronischen Rechtsverkehr, hier insbesondere auf die Behördenaktenübermittlungsverordnung (vgl. dazu bereits die Stellungnahme vom 26.6.2024). Wegen des ausschließlich digitalen Gerichtsverfahrens ab dem 1.1.2026 sei es dringlich, Behörden zum xJustiz-konformen Versand ihrer Akten zu verpflichten.

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